Chancen eG

Bildung gemeinsam finanzieren

Die Medizinstudentin Sophie hat bei ihrer Arbeit als Hebamme und bei verschiedenen Praktika erlebt, was Ärztemangel bedeutet. Als Ärztin will sie deshalb nach dem Abschluss zu einer besseren ärztlichen Versorgung in Brandenburg beitragen. Ihr Studium finanziert sie mit dem Umgekehrten Generationenvertrag. Auf diese Weise bleibt ihr genug Zeit für das hohe Lernpensum.

Den Umgekehrten Generationenvertrag (UGV) zur Bildungsfinanzierung haben Studierende der privaten Universität Witten-Herdecke Mitte der 90er Jahre erfunden, als die Uni Studiengebühren erheben musste. Das Modell läuft so erfolgreich, dass die 2016 gegründete CHANCEN Genossenschaft es auf ganz Deutschland ausgeweitet hat.

Solidarisch, flexibel, gedeckelt

Und so funktioniert´s: Während des Studiums übernimmt die Genossenschaft die Studiengebühren. Sophie zahlt zurück, sobald sie pro Jahr über 21.000 Euro netto verdient. Die Rate ist vertraglich festgelegt und beträgt beispielsweise 10 Jahre lang 10 Prozent des Jahreseinkommens. Spätestens nach 25 Jahren gibt es keine Forderungen mehr, egal, ob die gesamten Studiengebühren zurückgezahlt sind oder nicht. Eine Rechnung, die nicht unbedingt 1:1 aufgeht. Das ist aber auch gar nicht das Ziel. „Bei uns kommen Fairness, Solidarität und Chancengerechtigkeit vor dem genauen Aufrechnen“, erklärt Florian Kollewijn, Vorstand der CHANCEN eG und selbst einmal Student an der Uni Witten-Herdecke. „Viel wichtiger ist uns, dass jede*r sich nach seinen/ihren Möglichkeiten und Fähigkeiten entwickeln kann, möglichst ohne finanzielle Bildungshürden.“ Also zahlen eben manche mehr, manche weniger als sie erhalten haben.

Momentan finanziert die CHANCEN eG in Deutschland 350 Studierende an 14 Bildungseinrichtungen. Je nach Studiengang oder Ausbildung – darunter Medizin, Psychologie, Pädagogik, Architektur, IT – betragen die Studiengebühren zwischen 1.000 und 10.000 Euro pro Jahr. Teilnehmende schätzen im Vergleich mit kommerziellen Finanzierungsanbietern den UVG wegen seiner Flexibilität. So ist ein Studiengangwechsel oder auch eine Unterbrechung problemlos möglich, ebenso Pausen in der Rückzahlung, beispielsweise während der Elternzeit oder Weiterbildung. Das macht zum Beispiel Moritz die Entscheidung leichter, der nach Studium und erster Berufstätigkeit überlegt, ob er ein Startup gründen soll: „Am Anfang werde ich nur ein kleines Gehalt beziehen können – mit dem UGV kein Problem, denn ich rutsche unter die Einkommensgrenze. Sobald mein Unternehmen erfolgreich ist, nehme ich meine Rückzahlungen wieder auf.“

UGV auch in Ruanda

2018 hat die CHANCEN eG sogar den Grenzübertritt gewagt. In Ruanda studieren 420 junge Frauen mit einem UVG Hotelwesen, IT und Management-Entrepreneurship. Bisher stammt das Geld dafür hauptsächlich von europäischen und amerikanischen Investoren. 

Mehr Impact Investment in Bildung

Zurück nach Deutschland: Hier ist das Interesse am Umgekehrten Generationenvertrag sehr groß. Noch mehr Unis und Studierende wollen dabei sein. „Der Engpass liegt bei den Kapitalgebern“, sagt Florian Kollewijn. 8 Millionen Euro hat die CHANCEN eG in den drei Jahren ihres Bestehens eingesammelt, von Privatpersonen, von Stiftungen und Family Offices und über ein GLS Bank-Darlehen. Letztere ist zusammen mit der GLS Treuhand schon seit Einführung des UVG ein zuverlässiger Wegbegleiter bei der Bildungsfinanzierung. „Das Interesse, mit Geld Gutes zu tun, wächst“, meint Kollewijn. „Sicher auch deshalb, weil sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit mittlerweile stärker auf die positive oder negative Wirkung von Geldanlagen richtet.“ Gleichzeitig hat die Politik mit den Sustainable Development Goals klar aufgezeigt, wo Investitionen nachhaltig wirken. Chancen eG Mitglied werdenZiel 4 lautet hochwertige Bildung für alle. Ihren Investoren bietet die CHANCEN eG eine Rendite zwischen 3 bis 3,5 %. Dazu kommt die soziale Wirkung, die sich direkt bemessen lässt: Wie viele Studierende wurden finanziert und wie divers ist ihr sozio-ökonomischer Hintergrund? „Wir achten darauf, unter allen Interessen die Balance zu halten und Chancen fair zu verteilen“, betont Kollewijn. Deshalb müssen alle Mitglieder der Genossenschaft werden, Studierende und Kapitalgeber. 700 sind es bisher. Jedes Mitglied hat eine Stimme. Auf der Jahresversammlung entscheiden sie gleichberechtigt über die zukünftige Entwicklung der Solidargemeinschaft.

Auswahl

Die 10 Mitarbeiter*innen der CHANCEN eG kennen alle UVG-Teilnehmer*innen persönlich, denn vor dem Vertragsabschluss steht ein Bewerbungsgespräch. „Wir wollen die Menschen erleben, wissen, weshalb sie genau diese Ausbildung machen möchten und welches Verständnis sie von dem Berufsfeld haben“, sagt Florian Kollewijn. „Gleichzeitig sollen die Bewerber*innen auch uns und unser Modell genau kennenlernen, so dass sie wissen, worauf sie sich einlassen.“

Bei der Auswahl der Partnerhochschulen sind höhere Bildungsvielfalt und gesellschaftlicher Nutzen ausschlaggebend. Sei es, dass durch ein Studienangebot etwas gegen Ärztemangel in ländlichen Gegenden getan werden kann, sei es, : dass Geisteswissenschaftler*innen der Quereinstieg in die Digitalbranche ermöglicht wird.

Nächstes Ziel: Lebenshaltungskosten finanzieren

Für die nächsten Jahre hat sich die CHANCEN eG einiges vorgenommen: „Wir wollen noch viel mehr Studierende unterstützen“, erklärt Kollewijn. „Deshalb möchten wir zusammen mit der GLS Bank eine Anleihe über 10 Millionen begeben.“ Außerdem startet ein Pilotprojekt, bei dem die Lebenshaltungskosten für Studierende von der CHANCEN eG abgedeckt werden. „Damit fällt eine weitere finanzielle Bildungshürde.“

Fotos: Chancen eG

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